Deutsch und jüdisch – eine ambivalente Konstellation

23.10.2021

Deutsch und jüdisch – eine ambivalente Konstellation

Historiker-Vortrag zur Geschichte des jüdischen Lebens in Deutschland verdeutlicht das wechselhafte Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und religiöser Minderheit

Anlässlich der Feierlichkeiten zum 1700-jährigen Bestehen jüdischer Kultur in Deutschland hat Chaverim gemeinsam mit der VHS Norderstedt und der Integrationsbeauftragten der Stadt am 20. Oktober zu einem besonderen Vortrag eingeladen: Prof. Carsten Schapkow, Experte für deutsch-jüdische Geschichte und assoziiertes Fakultätsmitglied am Selma-Stern-Zentrum für jüdische Studien, Berlin-Brandenburg, erläuterte den rund 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmern per Zoom, wie sich das Judentum in Deutschland seit dem Mittelalter entwickelt hat. 

Jüdische Aufklärung

Dieses ungemein komplexe Thema verdichtete Schapkow auf einen etwa einstündigen Vortrag, indem er nach einer kurzen Schildung der Lage im Mittelalter rasch einen Bogen hin zur Zeit der Aufklärung schlug, in der sich die Lage der Juden erstmals grundlegend änderte. Innerhalb der europäischen Aufklärung entwickelte sich eine eigenständige jüdische Aufklärung. Diese sogenannte „Haskala“ entstand um 1770 in Berlin und Königsberg. In der Folge erfuhr das Streben nach moderner, weltlicher Bildung innerhalb des deutschen Judentums einen enormen Aufschwung. Wichtigster Protagonist der Haskala war der Philosoph Moses Mendelssohn. Der „deutsche Sokrates“, wie er von Zeitgenossen gerühmt wurde, war unter anderem Gotthold Ephraim Lessing freundschaftlich verbunden. Doch selbst jene, die mit ihm im regen geistigen Austausch standen, konnte nicht nachvollziehen, dass er nicht zum Christentum konvertieren wollte und es für selbstverständlich hielt, dass man Deutscher und Jude zugleich sein konnte.  

Erstarken des Antisemitismus

Schapkow machte deutlich, dass die Zuneigung der Juden zur deutschen Kultur wenig Erwiderung fand. Das gebildete jüdische Bürgertum wollte als zivilisierter, selbstverständlicher Teil der Gesellschaft wahrgenommen und akzeptiert werden. Spätestens mit dem Gründerkrach nach der Reichsgründung 1871 griff jedoch eine neuerliche Judenfeindlichkeit um sich. 

Aus heutiger Perspektive kann man die Enttäuschung über diese Entwicklung unter den jüdischen Zeitgenossen nur erahnen. In seinem Vortrag schilderte Schapkow abschließend, wie sich Juden ein letztes Mal im Rahmen der urbanen Begeisterung über den Kriegseintritt 1914 die Hoffnung machten, als tapfere Soldaten und Offiziere gesellschaftliche Anerkennung zu finden. 

Der kompakte, und dennoch ungemein differenzierte Überblick zur deutsch-jüdischen Geschichte offenbarte, wie vielgestaltig und ambivalent das Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden in Deutschland in der langen Zeit vor der NS-Ära war.

Dirk Burmester, Chaverim

Partner

Stadt Norderstedt
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Volkshochschule Norderstedt
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