Redebeitrag Hans-Christoph Plümer zum Gedenktag am 9.11.2024

13.11.2024

Verehrte Stadtpräsidentin, liebe Frau Oehme, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer an
unserer Gedenkveranstaltung,

seien sie ganz herzlich begrüßt zu diesem Moment des Gedenkens und Innehaltens.
Wir erinnern mit dieser Feierstunde am Mahnmal des ehemaligen Konezntrationslagers
Wittmoor an die Nacht vom 9. zum 10 November 1938, als in Deutschland die Synagogen
brannten, zahllose Geschäfte jüdischer Inhaber zerstört und ungefähr 30.000 jüdische
Mitbürgerinnen und Mitbürger in Konzentrationslager deportiert wurden. Diese Ereignisse
markieren den Auftakt zu dem was die Nationalsozialisten „Endlösung der Judenfrage“
nannten, die Auslöschung der jüdischen Bevölkerung Europas.

Zu diesem Zeitpunkt war der Antisemitismus Bestandteil der Alltagskultur in Deutschland
geworden. Gegen Juden zu hetzten, sie der Kulturzersetzung und der Zerstörung des
Wirtschaftslebens bezichtigen zu dürfen, erschien im konservativ - bürgerlichen Denken aber
auch darüber hinaus, erlaubt. „Die Juden sind unser Unglück“ - mit dieser Parole des
Nazihetzblattes „Der Stürmer“ konnten sich durchaus viele identifizieren, und nicht nur Nazis.
Am 9. November mussten, die die Hitlers Hassreden über Juden nur als ideologisches Beiwerk
des Faschismus abgetan hatten, erkennen, dass sie den Charakter dieser Art von
Gewaltherrschaft unterschätzt und verharmlost hatten. Am 9. November fiel die Maske. Der
Nazi-Staat zeigte seinen Charakter als Willkürherrschaft, als Zerstörung des Rechtes. Er war auf
Hass gegen Minderheiten aufgebaut. Er verbreitete durch seinen Terror Angst und Schrecken.
Nationalistischer Größenwahn trieb unaufhaltsam auf einen Krieg zu. Organisierte Gegenwehr
gegen diesen Terror gab es nicht mehr. Es gab kein Parlament mehr, das noch irgendeine
Macht hatte. Die politische Opposition war ausgeschaltet durch blutige Verfolgung, Vertreibung
und physische Auslöschung. Der politische Widerstand artikulierte sich höchstens noch aus
dem Ausland. Es gab nur wenige, die 1933 erkannten, dass es so weit kommen würde, dass
Millionen von Menschen in Vernichtungslagern umkommen und ein Weltkrieg unglaublich
viele Opfer kosten würde. Es hatte alles damit angefangen, dass viele Menschen aus
Verzweiflung über die politische und wirtschaftliche Situation Deutschlands 1932 bereit waren,
eine Naziregierung für akzeptabel zu halten. Die letzte freie Reichtagswahl im November 1932
brachte den Braunen einen Stimmenanteil von 33,1%. Das reichte um im Januar 1933 Hitler
zum Reichskanzler zu machen. Zu diesem Zeitpunkt glaubten viele bürgerlich-konservative
Politiker, man werde die neue Regierung kraft der Mitglieder der Deutschnationalen im
Kabinett in Schach halten. Das gelang nicht, weil die Nazis auf brutalstmögliche Weise die
Angst der Deutschen vor einem angeblich linken Staatstreich, der Furcht vor Anarchie und
wirtschaftlichen Niedergang bedienten und rigoros jede Art von bürgerlicher und linker
Opposition beseitigten. Der endgültigen Abschaffung der Weimarer Demokratie mit dem
Ermächtigungsgesetz stimmten am Ende sogar politisch Liberale zu in der Hoffnung, die
Zerstörung der politischen Opposition so vielleicht überleben zu können. Schon bald nach
Reichtagsbrand, Ermächtigunggesetz, dem Verbot politischer Parteien, der Auflösung der
Gewerkschaften am 1. Mai 1934 war innerhalb von etwas über einem Jahr eine braune Diktatur
entstanden, in der es keinen organisierten Widerstand gegen die neuen Machthaber mehr gab.

Wer seine Stimme noch zu erheben wagte, geriet ohne Gerichtsbeschluss und ohne öffentliche
Kontrolle in Gefängnishaft oder in Konzentrationslager. Dass Lager Wittmoor, an dessen Rand
wir heute stehen, ist eines der ersten Konzentrationslager im Bereich Hamburg und
Südholstein. Schnell errichtet wurden hier überwiegend politische Gegner der Nazis,
Kommunisten und Sozialdemokraten zur Zwangsarbeit im Moor verdammt. Dem
Gauleiter der NSDAP Kaufmann war dieses Lager zu lasch. Aber Konzentrationslager sollten
nicht nur quälen, töten und vernichten. Sie waren auch ein Mittel, eine ohnehin schon
ängstliche Bevölkerung politisch gefügig zu halten. „Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich
nicht nach Wittmoor kumm“ ist ein Vers gewesen, der hier in der Bevölkerung umlief und jene
heimliche und deshalb so wirksame Angst vor der Macht der neuen Herren über leben und
Tod Ausdruck gab, die schon scheinbar geringen Widerstand aufs hart ahndete.

All dies war steigerungsfähig und führte am Ende zu einer organisierten Quälerei von
Menschen in einem unmenschlichen System von Lagern, die der physischen Ausbeuitung und
Vernichtung von Menschen zum Zweck der Kriegsführung dienten. Die Progromme vom
November 1938 bildeten den Auftakt zur geplanten völligen Vernichtung der Juden Europas,
der am Ende die allein 6 Millionen Juden das Leben kostete.

Dies alles ist bekannt und der Prozess der Aufarbeitung dieser Menschheitsverbrechen nicht
abgeschlossen. Und dennoch sind Menschen heute erneut bereit, einer politischen Partei
Macht und Einfluß zuzubilligen, die mit ihrer Ideologie und ihrer Art Politik zu treiben, an das
anknüpft, was Nationalsozialisten, seit es sie gab, systematisch verfolgten: Hass und Zwietracht
zu säen, indem man mit Lügen und mit Gewalt der Straße Menschen ausgrenzt und diffamiert.
Indem man demokratische Kultur verächtlich macht und das Parlament benutzt, um politische
Gegner als Volksfeinde darzustellen. Es ist schlimm, dass dies geschieht, noch schlimmer ist,
dass offensichtlich nicht wenige Menschen in unserem Land bereit sind, dies so hinzunehmen.

Ebenso wie sie auch bereit sind, judenfeindliche Hetze als bloße „meinungsäußerung“ zu
akzeptieren. Wir leben in Zeiten, in denen das öffentliche Klima Züge von Verrohung trägt
und in diesem Klima steigt die Neigung, Rechtsextremisten als ehrenwerte Menschen zu sehen,
die die Mehrheit vor politischer Unsicherheit beschützen wollen. Es ist die Angst vor dem
vermeintlichen Chaos, die den Demagogen den Zulauf bringt, Chaosangst, die in sozialen
Netzwerken gezielt geschürt wird. Der öffentliche politische Diskurs leidet unter
Schwarzweißzeichnung politischer Probleme und die Angst vor sozialem Abstieg schürt die
Bereitschaft, aggressiven Lösungsvorschlägen zu folgen. Wer fragt eigentlich noch danach, ob
eine politische Maßnahme einer Sache angemessen ist? Und wer fragt noch danach, ob eine
Sache auch wirklich so ist, wie sie bei Facebook oder TomTom dargestellt wird? Die
Bereitschaft als Bürger in den Panikmodus zu gehen wächst bisweilen ins Bizarre.

Ist das eine Frage der Bildung? Kann man in der Schule lernen, Zeitungsnachrichten kritisch zu
lesen? Kann man das lernen, was in einer Demokratie unverzichtbar ist, verantwortliche
Meinungsbildung aufgrund unbestreitbarer Tatsachen? Wir leben in einer zeit, in der vor
dieser Anforderung viele kapitulieren. Sie fühlen sich alleingelassen und sind vor lauter Angst
manipuliert zu werden auf Tauchstation gegangen. Wer ist noch da und macht Mut, es mit dem
offenkundigen Wahnsinn, der auch in unserer Welt herrscht, es aufzunehmen? Wer so fragt,
wird schnell die Antwort „niemand“ zu hören bekommen. Das ist auch kein Wunder. Wir
gehen in den privaten Ohnmachtsmodus, wenn es zu viel wird. Aber ich bin mir sicher: das ist
etwas, was von denen, die gern die ganze macht für sich allein hätten, gern gesehen und gewollt
wird. Der mündige Bürger dankt ab angesichts katastrophaler Aussichten. Lasst mich mit
Politik in Ruhe, sollen sie doch machen, die da oben. Ich habe den starken Verdacht, dass
diese Haltung regelrecht gezüchtet wird von denen, die von diesen Ohnmachtsgefühlen
profitieren, und die sitzen ganz rechts im Parlament. Sie verbreiten das Märchen von der
Ohnmacht des Staates und verbreiten die Stimmung, dass die Demokratie versagt habe.

Wir stehen hier an einem Ort, an dem wir mit Mühe die Konsequenzen so einer politischen
Haltung noch erkennen können. Millionen von Menschen litten Qualen Millionen fanden den
Tod, weil andere sich nicht interessierten, weil sie gleichgültig blieben angesichts von Hass
und Judenfeindschaft. Wir sind heute hier, weil wir diese Gleichgültigkeit nicht akzeptieren
und weil wir uns für die Zusammenhänge interessieren, die zur Zerstörung von Rechtsstaat und
Demokratie führten. Es ist einiges getan, wenn wir mit dem Vorsatz gestärkt davon gehen, diese
Mechanismen der Zerstörung nicht zu akzeptieren, sondern uns selber und andere in
freundlicher Weise darüber aufzuklären, wie ein trotz politischer Gegnerschaften friedvolles
Leben in demokratischen Verhältnissen möglich ist.

Hans-Christoph Plümer